Hilfe, Psychopathen!

Wer sich im Internet nach Menschen erkundigt, die sich nicht verlieben können, bekommt Abenteuerliches geboten. Schnell macht sich der Eindruck breit, dass Aromantik demnächst feierlich in den ICD-10 als kuriose Abart psychischer Krankheiten aufgenommen wird. Gratis dazu gibt es die fachmännische Diagnose: Aromantiker sind Psychopathen – oder Soziopathen. Am besten gleich beides auf einmal!

 

Am besten, man wundert sich zunächst gar nicht über die erstaunliche Anzahl psychologisch qualifizierter Menschen, denen man im virtuellen Netz begegnen kann, wenn es um das Thema Aromantik geht. Handelt es sich bei den Aromantikern um noch junge Menschen, greift oft die allseits beliebte DER/DIE-Richtige-Floskel, der sich bislang einfach noch nicht gezeigt habe. Alternativ wird auf ein unverarbeitetes Trauma oder eine Bindungsstörung hingewiesen. Aber spätestens, wenn die 25 überschritten ist, werden die kritischen Stimmen kräftiger und die Laiendiagnosen lauter: Wer sich in kein menschliches Individuum verknallt, hat gefälligst ein Soziopath oder ein Psychopath zu sein! In solchen Fällen sind die Sicherungen durchgebrannt und betreffende Personen haben selbst einen gewaltigen Knall!

Mit diesem Irrglauben gehen romantisch orientierte Menschen gerne in den Angriffsmodus über, wenn sie über Aromantik stolpern und behelfen sich lieber mit hanebüchenen Anschuldigungen, als das vorgefasste Weltbild zu überdenken und gegebenenfalls umschreiben zu müssen. Geistige Flexibilität sieht anders aus.

 

Das Problem bei den Begriffen, die aromantischen Menschen hier entgegen geschleudert werden, ist ihre vage Definition. Die psychologischen Kriterien sowohl für Psychopathen als auch für Soziopathen sind schwammig formuliert und verdüstern das Bild eher, als dass sie es erhellen würden. In der öffentlichen Wahrnehmung werden beide ‚Störungen‘ oft als asozial missverstanden und hier liegt offensichtlich der Vergleichspunkt mit Aromantikern. Denn die, so das allgemeine Vorurteil, lehnen nicht nur romantische Beziehungen ab, sondern gleich jegliche Beziehung zu anderen Menschen. Und wer eine solche Einstellung vertritt, kann offenkundig auch über keinerlei Empathie oder Mitgefühl verfügen. (Man beachte, wie Verliebtheit hier fälschlicherweise mit allgemeiner Liebes- und Emotionsfähigkeit gleichgesetzt wird!)

Damit sind die Assoziationen zu beiden Krankheitsbildern perfekt und die frisch gebackenen aromantischen Psychopathen und Soziopathen bevölkern als obskure Nachtgestalten die roman-tische Fantasie. So weit, so schlecht.

 

Verliebtheitsgefühle als soziale Kompetenz?

Nur zu häufig wird in der Diskussion um Aromantik der Vergleich mit romantisch orientierten Menschen gesucht und es braucht keine hellseherischen Fähigkeiten, um vorauszusagen, wer dabei besser abschneiden wird: Es sind die Romantiker. Verliebtheitsgefühle werden zum unwiederbringlichen Beweis höchster sozialer Kompetenz stilisiert und teilweise obendrein auch noch als dem sozialen Menschen genetisch eingeschrieben erklärt. Romantiker als die guten Menschen schlechthin und aromantische Menschen als die schwarzen, sozial inkompetenten Schafe.

 

Allein die Existenz von Aromantik beweist aber, dass es sich bei der Fähigkeit, sich zu verlieben, um keine genetische Eigenschaft handeln kann. Es ist unnötig, zu erwähnen, dass hier ein hormongesteuerter Rauschzustand überbewertet und Aromantik im Gegenzug abgewertet und verzerrt wird. Denn Aromantiker verfügen jeweils im individuellen Maße über Empathie und über Sozialkompetenz, manche haben davon mehr, manche weniger. Bei romantischen Menschen sieht es da im Übrigen auch nicht anders aus.

 

Die Erkenntnis, zu der uns dies führt: Aromantiker können Soziopathen oder Psychopathen sein, genauso wie romantisch orientierte Menschen. Aber das Vorurteil, derlei laienpsychologisch zugeschriebene Attribute an der romantischen Verliebtheit festzumachen und daraus allgemeine Sozialkompetenzen ableiten zu wollen, ist ein Irrglauben, der sich nicht halten lässt.

 

Siku

Kommentar schreiben

Kommentare: 9
  • #1

    Mary (Dienstag, 15 Dezember 2015 13:56)

    Tatsächlich hat man mir solche Vermutungen auch schon vorgehalten, bei mir war es eine angebliche "Soziopathie".

  • #2

    Gaze (Dienstag, 15 Dezember 2015 15:41)

    Der -pathie Vorwurf, wurde mir bisher nicht ins Gesicht gesagt. Ob er gedacht wurde, keine Ahnung.
    Meist wird auf "den/die Richtige" verwiesen, wobei die meisten das mittlerweile auch eher gequält über die Lippen bringen, da ich schon 30 bin.
    Meine bisherige Lieblingsbezeichnung ist: "Beziehungsfeindlichster Mensch den ich kenne" wobei ich mich selbst gar nicht so sehe! Ich bezeichne mich eher als kritisch/realistisch wenn es um Romantik bis ans Ende unserer Tage geht. Mit dem Begriff Aromantik können die meisten eh nichts anfangen und wenn ich versuche es zu erklären, ernte ich nur verwirrt entsetze Blicke.

  • #3

    Mia (Dienstag, 15 Dezember 2015 16:12)

    "Beziehungsfeindlichster Mensch den ich kenne" ist echt gut, wer kommt denn auf sowas ?

    Mir ist bisher der Sozio(Psycho)-pathievorwurf erspart geblieben was das Ausgesprochene angeht...

  • #4

    Gaze (Dienstag, 15 Dezember 2015 16:18)

    @ Mia

    Das kam von einer Freundin von mir. Wir sind immer noch befreundet ;)

  • #5

    Mia (Dienstag, 15 Dezember 2015 16:34)

    Na immerhin. dann war es sicher nicht böse gemeint.

  • #6

    Mara (Dienstag, 15 Dezember 2015 21:26)

    Diese Vorwürfe verstehe ich als Zeichen der Unaufgeklärtheit. Ich wünschte, Aromantik wäre bekannter, dann müsste man auch nicht mehr so ausschweifende Fragen der anderen beantworten.

  • #7

    Mary (Mittwoch, 16 Dezember 2015 05:16)

    Mich machen diese Vorurteile nur noch abwechselnd traurig und wütend. Ich glaube, eine allgemeine Akzeptanz von Aromantik und Asexualität werde ich nicht mehr erleben.

  • #8

    bet (Montag, 21 Dezember 2015 22:47)

    dieser icd-10 ist eh so ne sache.. die kriterien für die einzelnen krankheiten sind so formuliert, dass sie auf die hälfte der menschen zutreffen.

  • #9

    Nina (Mittwoch, 30 März 2016 16:32)

    Es gab schon Menschen, die bei mir Narzissmus vermutet haben. Dieses pathologisiert werden ist echt nicht schön.